Wer in den sozialen Medien unterwegs ist, trifft auf unzählige Menschen, die sich als Experten verstehen. Sie alle verfolgen die öffentlichen Diskussionen, sind vielleicht auch belesen und haben zu nahezu jedem Thema eine Meinung, die sie bei (zumeist) passender Gelegenheit zum Besten geben.
Hintergrund: Das Internet und KI machen es einfach, auf jede Frage kostenfrei eine Antwort zu erhalten. Und wenn die KI nicht gerade halluziniert, kann man mit der Weiterverbreitung des Gelesenen im Regelfall einen sehr gebildeten Eindruck vermitteln. Das ist ebenso verlockend wie risikoarm, werden dort doch die jeweils wahrscheinlichsten Antworten genannt.
Davon zu unterscheiden sind Experten, die nicht nur Gehörtes einzuordnen und im richtigen Moment widerzugeben wissen, sondern auf Basis einer profunden Ausbildung und jahrelanger praktischer Erfahrung ein tiefes Verständnis in einem Fachbereich gewonnen haben, das es ihnen erlaubt, sicher zu urteilen und auch neuartige Probleme zu lösen. Wenn sie sich in ihrem Expertengebiet äußern, tun sie das nicht auf der Grundlage ihrer Emotionen oder Meinung, sondern ihrer Erfahrungen und ihres Urteilsvermögens (Judgement). Sie wissen richtiggehend, wovon sie reden.
Dabei sind die Grenzen fließend und alle Abstufungen möglich. Nehmen wir ein triviales Beispiel: Jemand, der in seine Wetter-app geschaut hat, ein Diplom-Meteorologe und ein Landwirt sprechen darüber, wie das Wetter in den nächsten Tagen wird. Klar, jeder von ihnen wird eine Meinung haben. Aber wer wird am ehesten Recht haben und wem würden wir am ehesten vertrauen, zuhören und folgen? In Krisenfällen kann die richtige Wahl von größter Bedeutung sein.
Im echten Leben können wir echte Experten an ihren Lebensläufen erkennen, weil sie ein Thema für längere Zeit vertieft leben. Dabei haben sie insbesondere gelernt
1. bei welchen Anzeichen in ihrer Umgebung sie selber aktiv werden müssen,
2. welcher warum der optimale bzw. kürzeste Weg von mehreren zum Ziel ist,
3. welche „Neins“ berechtigt sind, und welche im Interesse des Ergebnisses besser ignoriert oder überwunden werden.
Wer nicht über Judgement in seinem Fachbereich verfügt, wird etwas nachsprechen können, was er im Mainstream gehört oder in der Fachliteratur gelesen hat. Er wird aber nicht anhand von erlebten Fällen argumentieren und abwägen können oder benennen können, worauf es warum ankommt und auch nicht erkennen, welche Details bemerkenswert oder bedeutsam sind und mit welchen Wirkungen oder Nebenwirkungen jeweils zu rechnen ist. Weil er die Konsequenzen letztendlich nicht einzuschätzen vermag, wird es ihm regelmäßig schwerfallen, Situationen zutreffend zu beurteilen und Entscheidungen zu treffen.
Er wird sich vielmehr mit Rückfragen Zeit verschaffen und offensichtliche oder unbestrittene „Wahrheiten“ und Kausalitäten wiederholen und zur Verstärkung auf die eigene Ansicht, feste Überzeugung oder glaubwürdige Quellen, die Zitate berühmter Personen oder erwiesener Experten, verweisen. Entlarven lassen sich bloße Weitererzählungen durch Fragen wie „wo haben Sie das genau erlebt?“ oder „welche Alternativen gibt es noch?“ und „worauf kommt es an?“
Ein Team, das bei Problemen, Projekten und in Bereichen ohne Judgement eine Lösung sucht, ist anfällig für Behauptungen jeder Art. Es gleicht einem Schiff, dessen Motor ausgefallen ist und das von den Wellen hin- und hergeworfen wird. In jedem dieser Fälle ist fachliche Führung – idealerweise mit unterschiedlichen Schwerpunkten – eine der wesentlichen Erfolgs-Komponenten. Einerseits, um allen Beteiligten das notwendige Maß an Orientierung, Selbstvertrauen und Sicherheit zu verschaffen. Andererseits, um in Zeiten dynamischer Veränderungen kritische Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, ausreichend Energie zu investieren und notwendige Veränderungen ohne Zeit-und Energieverlust zu bewältigen.
Strukturell besteht in jedem Team die Gefahr, dass aufgrund der Verlagerung der Produktionen aus Westeuropa, der jederzeitigen Verfügbarkeit durchschnittlichen Wissens und häufiger Arbeitsplatzwechsel der jüngeren Generation die klassischen Expertenkarrieren aussterben und mit dem Ausscheiden der heutigen Experten die Experten ohne vertieftes Wissen die Meinungsführerschaft übernehmen werden.
Bild: Juliana Romao auf unsplash.com