Die wichtigste Lektion für Startups
8. Dezember 20205 Stufen der Digitalisierung
16. Januar 2021Manche Sachen glaubt man erst dann, wenn man sie mit eigenen Augen gesehen oder sogar ausprobiert hat. So war es bei mir mit Lean. Obwohl ich das zunächst gar nicht miteinander in Verbindung gebracht habe, als wir vor 15 Jahren eine Produktion besuchten, die gänzlich anders war als alle, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Die ruhig wie ein Sanatorium und zuverlässig wie ein Uhrwerk vor sich hinschnurrte und im Wortsinn über Nacht neue Aufträge in Lieferungen verwandelte. „Wie ist sowas möglich?“ fragte ich mich an jenem Tag. Jahre später nahm ich an einem Planspiel zu Projekten teil und erlebte im Spiel alle Widrigkeiten, die ich aus der Realität kannte. Ein paar Regeländerungen später lief die virtuelle Firma geschmeidig, erledigte ihre Projekte pünktlich und verdiente richtig gutes Geld.
An dem Tag lernte ich – anhand der Theorie des Spiels – was es mit Lean auf sich hat. Seitdem begleitet es mich auf Schritt und Tritt, egal ob ich darüber lese, etwas ausprobiere oder es einfach nur anwende. Ich selber, mit Freunden, mit meinen Kunden. Heute ist keiner in meinem Umfeld so richtig sicher vor mir und meinen Lean-Prinzipien. Wirklich unglaublich, dass ich damit 2020 immer noch ein Exot bin. Schließlich reichen die Wurzeln fast 100 Jahre zurück und wurden bereits vor 30 Jahren die ersten Bücher dazu geschrieben. Inzwischen fragen sich viele, warum sich Lean nicht schneller verbreitet, obwohl Firmen gleich welcher Branche damit so viel bessere Ergebnisse erzielen.
Heute ist die Ansicht verbreitet, dass Lean vielfach „kontraintuitiv“ ist, gewissermaßen dem gesunden Menschenverstand oder besser dem, was wir intuitiv für richtig halten, widerspricht. Grund genug, unsere widersprüchlichsten Grundüberzeugungen einmal zusammenzustellen.
Je größer die Losgrößen, desto niedriger die Kosten.
Na klar, Rüstkosten verteilen sich besser, das senkt die Stückkosten. Leider geht der Vorteil in Rauch auf, weil die Produktion länger geblockt wird und sich die Warte- und Lieferzeiten anderer Aufträge verlängern. Die Verschwendung durch Planung, Umplanung, Auftragswechsel etc. steigt stark an. Lean setzt auf möglichst niedrige Losgrößen, die durch Minimierung der Rüstzeiten erreicht werden.
Je früher wir anfangen, desto früher sind wir fertig.
Na klar, rutscht ja alles nach vorne und wir haben mehr Zeit zur Erledigung. Wenn wir das aber systematisch machen, sind viel mehr Aufgaben gleichzeitig in Bearbeitung als vorher. Wir verlieren den Überblick und brauchen mehr Zeit zum Planen. Es lässt sich auch nicht mehr vermeiden, zwischen verschiedenen Aufgaben hin- und herzuspringen. Am Ende verlieren wir mehr als die Zeit, um die wir früher gestartet sind. Lean hingegen setzt darauf, immer nur eine Aufgabe gleichzeitig zu bearbeiten und so schnell wie möglich abzuschließen. Idealerweise werden Aufgaben so spät wie möglich begonnen, um früher fertig zu sein.
Je höher die Auslastung, desto höher ist die Produktivität.
Na klar, je höher der Druck auf die Leute ist, desto schneller werden sie arbeiten. Lean hingegen setzt darauf, die Arbeit so zu dosieren, dass sie immer im Fluss bleiben kann. Damit Aufgaben in einem Rutsch erledigt werden und nirgendwo warten müssen. Selbst wenn überraschend was dazwischenkommt. Oberhalb von einer Auslastung von 80 Prozent steigt das Risiko stark an, dass Warte- und Liegezeiten sowie Verschwendung auftreten. In dieser Zone ist also Vorsicht geboten.
Es ist optimal, wenn derjenige die Aufgabe übernimmt, der sie am besten erledigen kann.
Na klar, wer sie am besten kann, wird sie auch am schnellsten erledigen können. Damit übernehmen aber die gleichen Leute immer dieselben Aufgaben, Spezialisierungen werden verstärkt. Nicht selten bilden sich bei den größten Spezialisten die längsten Warteschlangen. Die Transparenz geht verloren, sie verlieren Zeit mit Umplanen und Hin- und Herspringen. Lean hingegen setzt darauf, Aufgaben den Mitarbeitern zu übertragen, die sie bisher am wenigsten beherrschen. So lernen sie dazu und alle sind mittelfristig möglichst breit qualifiziert. Das hilft dabei, Kapazitäten je nach Bedarf flexibel zu verlagern.
Es ist unwirtschaftlich, wenn mehr als einer an einer Aufgabe arbeitet.
Na klar, zwei brauchen ja doppelt so lange wie einer, die stehen sich ja nur gegenseitig auf den Füßen rum. Lean hingegen setzt darauf, so fokussiert wie möglich zu arbeiten und Aufgaben so schnell wie möglich abzuschließen. Mögliche Fehler früher zu entdecken und bestmögliche Ergebnisse zu produzieren. Die Praxis beweist, dass aus Sicht der gesamten Firma weniger Zeit gebraucht wird, wenn so viele Personen wie sinnvoll möglich eine Aufgabe zusammen erledigen.
Für Verbesserung gibt es Projekte.
Na klar, es müssen ja alle immer was zu tun haben. Und deshalb hat auch keiner Zeit, sich um Verbesserung zu kümmern. Wenn wir was Neues machen oder etwas verbessern wollen, dann suchen wir erst jemanden, der sich Zeit dafür nimmt. Und schon haben wir ein Projekt. Lean hingegen setzt darauf, dass wo und wann immer gearbeitet wird, Verbesserungen möglich sind, und jeder die Pflicht hat, seine Arbeit zu verbessern. So wird die Verbesserung zum Tagesgeschäft.
Führungskräfte sind dafür da, Probleme zu bekämpfen.
Na klar, denn sie waren ja früher die besten Fachkräfte. Deshalb können sie die Probleme auch am schnellsten lösen. Lean hingegen setzt darauf, dass Probleme dort gelöst werden, wo sie entstehen. Vor Ort und möglichst von den Mitarbeitern, die betroffen sind. Und so gründlich, dass sie nie wieder auftreten können.
Es gibt im Detail vielleicht noch viele weitere Unterschiede und Widersprüche zu vorherrschenden Glaubenssätzen. Aber die Liste ist schon stark genug, um zu erklären, warum viele bei der ersten Begegnung irritiert sind oder Lean als Unsinn abtun. Bis sie es irgendwann selber erleben. Oder zu sehen bekommen, welche Wirkung die Verdopplung der Produktivität auf Arbeitszufriedenheit, Produktpreise, Umsätze und Firmenergebnisse hat.
Bild: unsplash.com; Stoica Ionela