Über Standardisierung und Bürokratie
7. Juli 2021
Feste Termine im Projekt – Einhörner der modernen Arbeitswelt
30. Januar 2022
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Wer wür­de ernst­haft behaup­ten, dass ein Fuß­ball­spiel im Fern­se­hen eben­so so beein­dru­ckend ist, wie im Sta­di­on dabei zu sein? Oder ein Por­no genau­so gut wie ech­ter Sex? Nie­mand. Und den­noch erklä­ren uns arbeits­fer­ne Phi­lo­so­phen und von Rei­se­ver­bo­ten gebeu­tel­te Pan­de­mie­ver­lie­rer, dass mit der stei­gen­den Ver­brei­tung von Home-Office – samt zeit­wei­sen Home-Office-Gebot – ein wei­te­rer ver­hei­ßungs­vol­ler Schritt zur Befrei­ung der Mit­ar­bei­ten­den gemacht sei: Seht, er gab uns eine San­da­le, das ist sein Zei­chen, lasst uns sei­nem Zei­chen folgen!

Es gibt sogar das Kon­zept des „smart working“, als des­sen wesent­li­che Kom­po­nen­te – ins­be­son­de­re in Groß­un­ter­neh­men – die fle­xi­ble Arbeit von zu Hau­se ver­stan­den wird. In Ita­li­en ist smart working sogar unter exakt die­sem eher unita­lie­ni­schen anmu­ten­den Begriff gesetz­lich defi­niert und ver­an­kert (81/2017). Damit haben wir ein Kon­zept und seit der Pan­de­mie auch eine Rea­li­tät, mit der sich Büro- und Fahrt­kos­ten spa­ren las­sen und der wir einen wohl­klin­gen­den Namen ver­passt haben. Dann ist doch alles Bes­tens, oder?

Nein, lei­der nicht. Arbeit ist zual­ler­erst dann Arbeit, wenn sie Wert­schöp­fung ist, das heißt, für den Kun­den mehr Wert erzeugt. Des­halb prü­fen wir bes­ser erst, inwie­weit es sich tat­säch­lich um Arbeit han­delt, bevor wir beur­tei­len kön­nen, wie „smart“ das Trei­ben tat­säch­lich ist. Und zwar für alle drei For­men wert­schöp­fen­der Tätig­kei­ten, an denen Men­schen betei­ligt sind: Zuerst ist da, – der­zeit noch – bekannt aus Pro­duk­ti­on, Hand­werk und Logis­tik, die Hand­ar­beit. Es ist ein­leuch­tend, dass die­se Tätig­kei­ten über­wie­gend vor Ort, beim Kun­den oder in einer Pro­duk­ti­ons­hal­le erbracht wer­den und inso­weit bereits vom Grun­de her nicht für Home-Office geeig­net sind.

In Büros wird wie­der­keh­ren­de Denk­ar­beit vor Bild­schir­men erbracht, sei es zur Daten­er­fas­sung, -ein­ga­be oder -ver­än­de­rung. Wer einen sol­chen Job heu­te von zu Hau­se erbrin­gen darf, kann sich glück­lich schät­zen. Kurz­fris­tig. Denn es muss ihm bewusst sein, dass die­se Tätig­keit mit ein biss­chen unter­neh­me­ri­scher Weit­sicht und Dis­zi­plin bereits heu­te tech­nisch ersetz­bar wäre und nach vor­herr­schen­den Pro­gno­sen spä­tes­tens im Jahr 2030 von Com­pu­tern aus­ge­führt wird. Wenn nicht in der heu­te bestehen­den Fir­ma, dann in einer, die sie bis dahin abge­löst und ihr Geschäfts­mo­dell direkt digi­tal gedacht und auf­ge­baut hat. Ama­zon frisst uns alle.

Ger­ne wird an die­ser Stel­le ange­führt, wir müss­ten doch den gan­zen Tag über Pro­ble­me lösen, und das könn­ten wir genau­so gut von zu Hau­se. Das stimmt wohl, wobei genau bese­hen die täg­li­chen Pro­ble­me dadurch ent­ste­hen, dass kei­ne Stan­dards vor­han­den sind, in gro­ßen arbeits­tei­li­gen Beschluss­krei­sen Aus­nah­men gebil­ligt wer­den, oder Arbeits­feh­ler, Ver­spä­tun­gen oder ande­re Ver­säum­nis­se vor­ge­la­ger­ter Stel­len besei­tigt wer­den müs­sen. Selbst­be­schäf­ti­gung, pure Ver­schwen­dung. Das ist das, womit sich der Homo offi­ci­ni­us heut­zu­ta­ge wie­der­keh­rend und zu 90% sei­ner Zeit beschäftigt.

In Groß­kon­zer­nen sieht das dann so aus, dass im 30 Minuten-Takt ein teams-Meeting das nächs­te jagt. Zeit zum Vor- oder Nach­be­rei­ten gibt es nicht. Freie Minu­ten wer­den dafür gebraucht, spon­ta­ne Mee­tings für mor­gen und über­mor­gen ein­zu­be­ru­fen. Abzüg­lich Ver­spä­tung, warm-up, cool-down und vor­zei­ti­ger Ver­ab­schie­dung ver­bleibt in jedem die­ser Speed-Datings nur ein Kern von 10 Minu­ten für das inhalt­li­che Gespräch. Das reicht maxi­mal zum Abgleich von Infor­ma­ti­ons­stän­den und Andis­ku­tie­ren von Pro­ble­men aus. Sobald unter­schied­li­che Stand­punk­te erkenn­bar wer­den, die eine Reflek­ti­on oder Dis­kus­si­on ver­lan­gen wür­den, ver­tra­gen sich die Par­tei­en auf ein wei­te­res Mee­ting die­ser Art. Ein­stei­gen bit­te, wer noch mit­möch­te, oki­do­ki, auf geht’s in die nächs­te Runde.

So was ist selbst­ver­ständ­lich von zu Hau­se aus mög­lich, aber ganz über­wie­gend kei­ne Wert­schöp­fung. Oder es ist – wie wei­ter oben aus­ge­führt – eine Form von Wert­schöp­fung, die bereits über­holt ist und auf­grund ver­gleichs­wei­se gerin­gem Markt­druck und Fort­schritts­wil­len immer noch zum Zwei­hun­dert­fa­chen des eigent­lich mög­li­chen Auf­wan­des erbracht wird. Hand aufs Herz: wol­len wir das, was zu 90% bis 99,5% Ver­schwen­dung dar­stellt, als Arbeit bezeich­nen, oder eher als Beschäf­ti­gung? Bezie­hungs­wei­se als „fake working“?

Kom­men wir zur drit­ten Form von Tätig­kei­ten: wenn Neu­es ent­steht. Sei es in Form der Schaf­fung oder Ver­bes­se­rung von Stan­dards, der Auto­ma­ti­sie­rung manu­el­ler Tätig­kei­ten mit Robo­tern, Maschi­nen oder Com­pu­tern oder neu­en Pro­duk­ten, Pro­dukt­ideen oder Geschäfts­mo­del­len. Unser Schlüs­sel zur Zukunft. Da brau­chen wir Krea­ti­vi­tät und im Unter­schied zur uni­ver­si­tä­ren Stu­di­en­ar­beit machen wir das idea­ler­wei­se gemein­sam. Damit die Ergeb­nis­se schnel­ler erreicht wer­den oder ein­fach nur bes­ser sind als das, was ein Ein­zel­ner erdenken könn­te. Und bei die­sen Tätig­kei­ten tre­ten die Nach­tei­le dezen­tra­ler Bild­schirm­kom­mu­ni­ka­ti­on beson­ders zum Vorschein:

Die redu­zier­te Auf­merk­sam­keit, die wir nicht mal gera­de durch den Satz „kannst Du mal Dein Lap­top zuma­chen?“ erhö­hen können.

Die feh­len­de Spon­ta­ni­tät, wo wir frü­her auf dem Gang oder am Kaf­fee­au­to­ma­ten vie­le eher zufäl­li­ge Gesprä­che geführt haben. Oder Gesprä­che ein­fach nur einen uner­war­te­ten Ver­lauf genom­men haben. Damit wer­den zufäl­li­ge Ent­de­ckun­gen oder Lösun­gen sehr viel unwahrscheinlicher.

Feh­len­de Reso­nanz und Dis­kus­sio­nen, weil wir die non­ver­ba­len Signa­le aller Teil­neh­mer nicht wahr­neh­men und ver­ar­bei­ten kön­nen oder auf­grund des tech­ni­schen Zeit­ver­zugs unser Ein­wand bereits dem nächs­ten Kern­ge­dan­ken des Spre­chen­den in die Para­de fah­ren würde.

Über­haupt sind wir vor­sich­ti­ger. Wegen dem Ver­trau­en. Da uns am Bild­schirm nicht alle Signa­le auf allen Kanä­len zur Ver­fü­gung ste­hen, ist es schwie­ri­ger, uns auf Basis einer als sicher emp­fun­de­nen emo­tio­na­len Kopp­lung zu rei­ben oder sogar zu strei­ten. Oder Ver­trau­ens­ver­hält­nis­se auf- und aus­bau­en. Bei­spiels­wei­se indem wir ande­ren unge­fragt hel­fen oder ein­fach mal mit anfassen.

Die feh­len­de Reflek­ti­on, da jede Form der Pau­se umge­hend mit hek­ti­schen Nach­fra­gen „Frank, Frank, hörst Du mich noch?“ unter­bun­den wird. „Sagt mal, könnt Ihr Frank noch hören?“ Manch­mal ant­wor­te ich dann „ich den­ke gera­de“. Dar­auf folgt dann ein erleich­ter­tes „ach so.“ Aber ein­mal dar­auf ange­spro­chen, ist das allen unan­ge­nehm und wir fah­ren lie­ber mit der Agen­da fort.

Und ist eine neue Idee erst ein­mal gebo­ren, braucht es den, der sie leben­dig durch die Pha­se des plötz­li­chen Kinds­tods bringt. Der sie mit Lei­den­schaft ver­tei­digt, Bud­gets orga­ni­siert und jeder­zeit sicht­bar Ener­gie ein­bringt, damit das Momen­tum nicht ver­lo­ren gehen kann. Kürz­lich berich­te­te ein ita­lie­ni­scher Spirituosen-Unternehmer, dass er Home-Office allein des­halb ableh­ne, weil dabei weit weni­ger Lei­den­schaft im Spiel sei, als er das für erfor­der­lich halte.

In Sum­me läuft die Inter­ak­ti­on im Home-Office ganz anders ab als im per­sön­li­chen Gespräch. One-way, mehr so wie im Fern­se­hen, mit fade­ren Ver­läu­fen, weni­ger Inter­ak­ti­on und lebelo­sen Ergeb­nis­sen. Nur dabei, statt mit­ten­drin, gewis­ser­ma­ßen. Was tat­säch­lich unse­re Inno­va­ti­ons­fä­hig­keit stark beeinträchtigt.

Jetzt wird man­che Software-Firma ein­wen­den: Aber uns gibt es seit Jah­ren nur vir­tu­ell und wir arbei­ten immer schon glo­bal ver­streut. Und es funk­tio­niert. Das mag schon sein, aber ers­tens gehört das bei Euch zur DNA und Ihr habt vom ers­ten Tag Mecha­nis­men ent­wi­ckelt, die Nach­tei­le abzu­mil­dern. Oder Ihr habt viel­leicht viel län­ger gebraucht und am Ende viel schlech­te­re Ergeb­nis­se erzielt, als das an einem gemein­sa­men Ort per­sön­lich mög­lich gewe­sen wäre. Wer weiß das schon? Denn das gehört bei allen Behaup­tun­gen dazu: Wir kön­nen nicht die Zeit zurück­dre­hen und schau­en, was pas­siert wäre, wenn wir etwas anders gemacht hät­ten. Und kei­ner kann die Genia­li­tät nicht-stattgefundener Inno­va­ti­on zutref­fend bewerten.

Am Ende leben alle eta­blier­ten Fir­men in den Zei­ten der Pan­de­mie vom „Play it again, Sam“. Bekann­te Pro­duk­te, Urtei­le und Arbeits­wei­sen wer­den best­mög­lich wei­ter­ge­führt und alle zeh­ren von ihrer ero­die­ren­den emo­tio­na­len Sub­stanz. Es könn­te hel­fen, sich aktiv dage­gen zu weh­ren, selbst wenn Ver­wal­tung, Poli­ti­ker und Phi­lo­so­phen das „smart working“ rosa­rot anpin­seln und mit Steu­er­vor­tei­len gar­nie­ren, denn wir alle bezah­len die leb­lo­sen Ersatz­hand­lun­gen, das fake working, mit einem Teil unse­rer erfolg­rei­chen Zukunft.

 

Bild: www.unsplash.com, Kay­la Velasquez

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